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KitzRace

Die Angst des Slalomfahrers vor dem zweiten Durchgang

22. Jänner 2022, 13:45 Uhr, Startareal Ganslernhang.

Nach dem ersten Durchgang haben noch etwas mehr als eine Handvoll Fahrer die Chance auf den Sieg – darunter der Brite Dave Ryding. Der Slalom-Spezialist mit Startnummer 15 liegt mit 0,81 Sekunden Rückstand auf den führenden Alex Vinatzer auf Rang 6. Zwischen den beiden positioniert sind Clément Noël, Sebastian Foss-Solevaag, Giuliano Razzoli und Marc Rochat, knapp dahinter lauern Alexis Pinturault, Tommaso Sala, Lucas Braathen und Stefano Gross. Für sie ist noch so ziemlich alles möglich. Für die weiter hinten Platzierten ist der Sieg schon in weite Ferne gerückt, ein gutes Ergebnis mit einem perfekten Lauf aber trotzdem noch realistisch. Ein langweiliger zweiter Durchgang? Unmöglich.

Ins Ziel schaffen es nach einem durchaus kuriosen Rennen am Ende nur 19 Fahrer. Unter den elf Ausfällen sind auch die Podiumskandidaten Stefano Gross, Alexis Pinturault, Sebastian Foss-Solevaag und Giuliano Rizzoli. Und ganz oben steht Dave Ryding, der mit 36 Jahren seinen ersten Weltcupsieg feiert.

Kopfsache
So sehr es auch in dieser Disziplin um physische Stärke, Fitness, Schnelligkeit und Talent geht, so ist der Slalom doch ein ganz anderes Biest als eine Abfahrt: Er ist nicht zuletzt ein Mental Game – der Sieg wird, überspitzt formuliert, im Kopf entschieden. Nur wer dem Druck gleich zweimal standhalten, ruhig bleiben und mit vollem Fokus attackieren – oder klug dosieren – kann, hat die Chance, am Ende ganz oben zu stehen. Die kleinste Ablenkung oder Unsicherheit, ein falscher Gedanke, auch nur der Ansatz eines Fehlers, und alles ist vorbei. Mit Pech landet man nicht einmal in den hinteren Rängen, sondern scheidet ohne Weltcuppunkte aus.

Druck, der (n.)
gewaltsame, zwanghafte, jemanden bedrängende Einwirkung von außen (Duden)

Dieses Risiko begleitet jeden Slalomfahrer – und macht nicht nur für die Athleten, sondern auch für das Publikum einen beträchtlichen Teil des Reizes aus: Alles ist möglich, im Schlechten wie im Guten. Das Favoritensterben im zweiten Durchgang letztes Jahr ist der beste Beweis, genau wie der Triumph von Dave Ryding oder auch die Aufholjagd von Henrik Kristoffersen, der sich mit einer Bestzeit im zweiten Lauf vom 24. auf den 3. Rang katapultierte. Denn das ist die Kehrseite des unberechenbaren Spiels: War der erste Lauf nicht optimal, ist dank der besseren Startnummer im finalen Durchgang oft immer noch einiges drin – sofern man bereit ist, alles auf eine Karte zu setzen und das Risiko für sich zu nutzen.

Ungeliebter Begleiter
Druck steht in beiden Szenarien mit im Starthaus. Die Intensität hängt dabei aber nicht nur vom Fahrer und seiner Erfahrung, sondern auch von der Leistung im ersten Durchgang ab: Wer mit einer guten Platzierung startet, hat alles zu verlieren; wer außerhalb der Top 10 gelandet ist, hat alles zu gewinnen.

„Ein guter erster Lauf bedeutet nicht allzu viel: Du hast eine schlechtere Startnummer im zweiten Durchgang und mehr Druck, mit dem du umgehen und unter dem du performen musst. Wenn du keinen guten ersten Lauf hast, hast du im zweiten Durchgang weniger Druck und kannst etwas freier fahren“, erzählt Ryding. „Mit der Zeit und mit mehr Erfahrung lernt man, wie man damit umgeht. Es ist wie bei allem anderen auch: Je öfter du etwas machst, umso besser wirst du darin.“ Das Mehr an Druck nimmt er für eine aussichtsreichere Ausgangslage im Finale gerne in Kauf: Für eine Aufholjagd an die Spitze lägen mit einem Platz am Ende des Klassements zu viele gute Fahrer und zu viel Zeit zwischen ihm und dem Podium.

Der Slalom-Spezialist Dave Ryding wurde 1986 in der nordenglischen Grafschaft Lancashire geboren. Skierfahrung sammelte er als Kind wintersportbegeisterter Eltern zuerst auf Indoor-Pisten in Großbritannien, erst mit 13 begann das Training auf Schnee. Im Jänner 2022 feierte er in Kitzbühel seinen ersten Weltcupsieg und schrieb als erster britischer Weltcup-Sieger seit der Einführung des Alpinen Skiweltcups Geschichte.

Nach einem 2. Platz 2020 träumt ÖSV-Läufer
Marco Schwarz vom Sieg am Ganslernhang.

„Man denkt sich: Jetzt nochmal Vollgas und alles rausholen!”

Was macht Slalomfahren herausfordernd?

Marco Schwarz: Slalomfahren ist herausfordernd, weil es brutal schnell ist. Es ist eine schnelle Kraftsportart, es sind 60, 65 Schwünge, wo man auf ein paar Zentimeter, teilweise Millimeter bei den Toren dabei ist, das macht es sehr schwierig. Man braucht sehr viele Trainingstage, dass man da so runterblatteln kann.

Gehört Angst – vor Fehlern, vor dem Ausscheiden – zum Slalomfahren?

Teilweise gehört’s dazu, aber man versucht, das so gut wie möglich auszublenden. Es sind diese 60, 65 Schwünge, bei denen man sich sehr am Limit bewegt. Fehler können immer wieder passieren, aber dafür trainieren wir. Das Drumherum blenden wir aus.

Wie verbringst du die Pause zwischen erstem und zweitem Durchgang, um dann wiedervoll angreifenzu können? 

Wenn die Möglichkeit besteht, setze ich mich kurz aufs Radl, um ein bisschen das Laktat abzubauen. Dann esse ich eine Kleinigkeit, schaue vielleicht noch kurz übers Video drüber und bespreche mich mit dem Trainer. Und dann liegt der Fokus schon wieder auf dem zweiten Durchgang.

Wie fühlt es sich an, im Starthaus zu stehen und auf das Go zu warten?

Es ist ein sehr cooles Gefühl, es kribbelt, rundherum kriegt man gar nicht mehr so viel mit, da fokussiert man auf seinen Lauf und die wichtigsten Keypunkte, aber auch darauf, nicht zu viel zu denken und dann mit Vollgas rauszustarten.

Woran denkst du während des Laufs? Blendest du alles um dich aus und bist hyperfokussiert oder haben noch andere Gedanken Raum?

Man ruft sich die Schlüsselpunkte in Erinnerung – zum Beispiel: Ich muss den Ski mehr laufen lassen, so ganz kleine Dinge –, aber eigentlich ist man mehr oder weniger im Tunnel.

Woran denkst du während des Laufs? Blendest du alles um dich aus und bist hyperfokussiert oder haben noch andere Gedanken Raum?

Man ruft sich die Schlüsselpunkte in Erinnerung – zum Beispiel: Ich muss den Ski mehr laufen lassen, so ganz kleine Dinge –, aber eigentlich ist man mehr oder weniger im Tunnel.

Welche Bedeutung hat der Slalom in Kitzbühel für dich?


Er ist sicher das Highlight im Jahr für jeden Slalomfahrer. Der Kurs ist sehr speziell, kein Schwung ist wie der andere, es ist sicher einer der schwierigsten Hänge und darum ist es auch ein Ziel, hier zu gewinnen. Ich denke sehr gern an das Jahr zurück, in dem ich Zweiter geworden bin. Das war mein Comebackjahr: In der Woche davor bin ich Dritter in Adelboden geworden und in Kitzbühel, beim Heimrennen, am Podium zu stehen, war dann sehr speziell.

Angst, die (n.)
mit Beklemmung, Bedrückung, Erregung einhergehender Gefühlszustand [angesichts einer Gefahr]; undeutliches Gefühl des Bedrohtseins (Duden)

Nervenkitzel
Ein weiterer, damit verbundener Dauerbegleiter im Slalomzirkus: Angst. Nicht vor dem Rennen, der Strecke oder den möglichen Fehlern, sondern davor zu versagen. Im Gegensatz zum Druck sei sie allerdings nicht situationsabhängig, sondern immer im Hinterkopf mit dabei, betont Ryding: „Die Angst vor dem Versagen bleibt gleich, egal in welcher Position man in den zweiten Durchgang startet.“ Ganz los werde man sie nie, aber man lerne, damit umzugehen und sie auszublenden, damit sie nicht überhandnimmt.

Das ist besonders bei so anspruchsvollen Strecken wie am Ganslernhang wichtig, die kein Zögern und keine Zweifel verzeihen. Egal, wie oft sie sich der Situation stellen – selbst Routiniers wie Ryding sind hier am Start nervös: „Kitzbühel ist einfach schwierig. Du musst dein Bestes geben, um keine Fehler zu machen und das Rennen überhaupt zu beenden.“

Über die Ziellinie
Kitzbühel gilt nicht umsonst auch unter Slalomfahrern als das Mekka des Skisports. Dass Ryding ausgerechnet dort seinen bislang einzigen Weltcupsieg gefeiert hat, passt: Schon vor sechs Jahren war der Brite nah dran an der Hahnenkamm-Sensation. Damals musste er sich nach der überraschenden Führung im ersten Durchgang nur Marcel Hirscher geschlagen geben – und das, obwohl er bis dahin kein einziges Rennen am Ganslernhang beendet hatte.

Nervosität, die (n.)
nervöser Zustand, nervöse Art; infolge psychischer Belastungen von innerer Unruhe, Zerfahrenheit oder Unsicherheit geprägter Zustand (Duden)

„Der Hang ist extrem herausfordernd. Das Gelände verändert sich mit jedem Schwung, es ist immer eisig und die Fans sind so nah dran. Ich habe 2017 auch nach dem ersten Lauf nur daran gedacht, dass ich das Rennen zu Ende fahren muss, weil ich das bisher noch nie geschafft hatte.“ Der Fokus war so sehr auf diesem Ziel, dass das Ergebnis in dem Moment nicht wichtig war.

Durchbruch
Letztes Jahr war die Situation etwas anders. Am Renntag fühlte Ryding sich nicht besonders gut, und auch die Rennen davor waren trotz eines vielversprechenden Saisonstarts nicht wie geplant gelaufen. Ein Sieg stand nicht auf der To-do-Liste, aber er nahm sich vor, eine seltsame Serie zu durchbrechen: Bisher hatte er alle seine Podestplätze mit der Startnummer 8 eingefahren, dieses Mal wollte er es mit Startnummer 15 aufs Podium schaffen und sich selbst beweisen, dass sein Erfolg nicht an eine Zahl geknüpft ist.

„Ich habe ehrlicherweise nie darüber nachgedacht zu gewinnen. Ich habe einfach versucht, mein Bestes zu geben“, erinnert er sich. Während des Laufs dachte er darüber nach, die Geschwindigkeit möglichst über alle Wellen und Geländetypen mitzunehmen, aber es fühlte sich nicht wirklich anders an als bei anderen Rennen. „Als dann nur noch eine Person oben war und ich immer noch führte, war das ein echter Moment. 2017 hat Marcel unten auf mich gewartet, dieses Mal habe ich im Ziel auf Alex Vinatzer gewartet. Das war mir definitiv lieber als als Führender am Start zu stehen und zu versuchen, das runterzubringen.“ Niemand rechnete mit seinem Sieg, am allerwenigsten er selbst. Möglicherweise machte genau das den Unterschied.

Das ist das Schöne am Slalom: Er ist hart, physisch und mental, aber er schreibt die mit Abstand spannendsten Geschichten.

Egal, welches Wetter, welche Pistenverhältnisse, welches Rennen: Um im Slalom an der Weltspitze mitzumischen und um Podiumsplätze zu kämpfen, muss bei Technik-Spezialisten wie Dave Ryding jeder Schwung sitzen – alles außer der Fahrt selbst spielt während des Laufs keine Rolle, Angst und Zweifel müssen im Starthaus bleiben.

Adrian Pertl sammelte 2020 am Ganslernhang mit einem 8. Platz seine ersten Weltcuppunkte.

„Es ist immer
eine gewisse Anspannung dabei“

Was macht Slalomfahren herausfordernd?

Adrian Pertl: Die Hänge im Slalom sind immer schwierig, speziell wenn es Steilhänge und viele Geländeübergänge gibt. Auch die Dichte ist sehr groß. Man kann sich keine Fehler erlauben, sonst ist man schnell nicht mehr im zweiten Durchgang dabei.

Gehört Angst – vor Fehlern, vor dem Ausscheiden – zum Slalomfahren?


Angst würde ich es nicht nennen, aber es ist schon immer eine gewisse Anspannung dabei. Man will immer das Beste geben und nicht ausscheiden, aber im Slalom kann es natürlich sehr schnell passieren, dass man einfädelt oder am Innenski ausrutscht.

Wie verbringst du die Pause zwischen erstem und zweitem Durchgang, um dann wieder voll angreifen zu können?


Man schaut sich meistens den ersten Durchgang nochmal an, dann schaut man, dass man ein bisschen runterkommt und eine Kleinigkeit isst. Die Pause ist dann meistens eh nicht so lang, oft geht es gleich weiter zur Streckenbesichtigung.

Was geht vor dem zweiten Durchgang in deinem Kopf vor?

Wenn der erste Lauf gepasst hat, konzentriere ich mich darauf, wieder einen guten Lauf runterzubringen. War der erste Lauf nicht so gut, versuche ich, nochmal voll anzugreifen und nach vorne zu springen.

Wie fühlt es sich an, im Starthaus zu stehen und auf das Go zu warten?

Es ist ein ganz spezielles Gefühl. Die Anspannung ist immer dabei und ich bin immer ein bisschen nervös, es ist aber auch ein cooles Gefühl, weil man weiß, jetzt fahr ich vor sehr vielen Zuschauern da runter.

Woran denkst du während des Laufs? Blendest du  alles um dich aus und bist hyperfokussiert oder haben noch andere Gedanken Raum?

Da denkt man eigentlich nicht an viele Sachen, man versucht einfach, sich den Lauf vor dem Start einzuprägen. Während dem Lauf passiert alles instinktiv. Da schaut man immer von Schwung zu Schwung und versucht, alles andere auszublenden.

Welche Bedeutung hat der Slalom in Kitzbühel für dich?


Eine sehr große, weil ich hier das erste Mal in die Punktränge gefahren bin und sehr lang am Leaderboard sitzen konnte. Und natürlich ist es ein Heimrennen und es sind Tausende Zuschauer dort – es ist für mich schon ein sehr spezielles Rennen und ich freu mich immer wieder zurückzukommen.

Foto: WWP/Hans Bezard, Stefan Zauner, WWP, ÖSV/GEPA