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KitzRace

Im Körper des Athleten

Die Streif verlangt den Sportlern, die sie bezwingen, alles ab. Sportmediziner Wolfgang Schobersberger und Sportwissenschaftler Hans-Peter Platzer erklären die physiologische Seite der legendären Abfahrt.

Egal, wie oft ein Rennfahrer in Kitzbühel antritt, er fährt nie zweimal die gleiche Streif. Sicht und Untergrundbeschaffenheit sind bei jedem Lauf anders, die berühmte Strecke präsentiert sich jedes Jahr in anderer Form. Diese Abfahrt ist komplex – so wie die körperlichen Vorgänge, die sie erst möglich machen.

Der Grundstein für einen erfolgreichen Lauf wird schon vor dem Start gelegt. Während die Anspannung immer größer wird, steht das finale Aufwärmen an. Mit den moderaten Einheiten, die man früher absolvierte, hat die aktuelle Praxis herzlich wenig zu tun. Es wird gesprintet, Liegestütz um Liegestütz gemacht, mit Terrabändern die Muskulatur in Richtung des schmalen Grates zwischen perfekter Vorspannung und Überlastung geformt. Aufwärmen dieser Intensität würde für Laien einen sehr starken Trainingsreiz darstellen und könnte sogar zu Überlastung führen. Bei den trainierten Profis ist es notwendig, um sich auf die kommenden Spitzenleistungen vorzubereiten.

Die Bewegung fördert die Durchblutung und damit die Sauerstoffversorgung der Muskulatur. Dabei produziert der Körper auch in der winterlichen Kälte Wärme. Wichtig: Die Fahrer dürfen sich nicht zu sehr aufheizen, der von ihnen aufsteigende Dampf könnte sonst später die Brillen beschlagen und damit die Fahrt deutlich erschweren. Nicht nur die Sicht, die Beinkraft oder die Schnelligkeit des Skis beeinflussen die Performance, es ist eine empfindliche Balance von mentaler Kompetenz und körperlicher Leistungsfähigkeit, die über Sieg und Niederlage entscheidet. Hormonell befinden sich die Fahrer nämlich im urtümlichen Zustand von Flucht oder Kampf. Adrenalin und Stresshormone wie Cortisol rauschen durch ihre Blutbahnen. Das aktiviert metabolische Reserven und treibt die Herzfrequenz zusammen mit dem Aufwärmen auf bis zu 140 Schläge pro Minute. Jeder Sportler ist anders –
manche übertreffen diesen Wert noch bei Weitem.

Aufwärmphase
fördert die Durchblutung und damit die Sauerstoffversorgung der Muskulatur

Hormoncocktail
Adrenalin und Stress-hormone wie Cortisol rauschen durch ihre Blutbahnen.

Herzfrequenz
bis zu 140 Schläge pro Minute

Hans-Peter Platzer 
Der Sportwissenschaftler betreute in der Vergangenheit zahlreiche Spitzensportler im Athletiktraining und ist nun am Institut für Sport-, Alpinmedizin und Gesundheitstourismus (ISAG) am Landeskrankenhaus Natters/Tirol Kliniken zuständig für Leistungsphysiologie und Trainingsplanung. 

Intensives Aufwärmen und gezieltes Ganzkörpertraining machen sich am Start bezahlt: Die Sportler müssen sich förmlich aus dem Starthaus katapultieren und innerhalb kürzester Zeit in eine aerodynamische Position finden. Diese Änderung der Biomechanik innerhalb von Zehntelsekunden lässt die Sauerstoffsättigung der Muskulatur zum ersten Mal leicht absacken, während der Körper in vier Sekunden auf bis zu 120 km/h beschleunigt.

Der Starthang ist nur 160 Meter lang, danach kommt bereits eines der ikonischsten Streckenstücke der Streif: die Mausefalle. Mit 85 % Gefälle ist sie der steilste Abschnitt, hier legen die Athleten mit bis zu 80 Metern den weitesten Sprung hin. In Kombination mit 6 Metern Luftstand und der folgenden Kompression ist die Landung eine der schwierigsten Situationen, die die Körper der Fahrer aushalten müssen. Hoher Muskeltonus und koordinatives Können sind gefragt, um aerodynamisch zu springen. Die Wucht der Landung entfesselt dann für den Bruchteil einer Sekunde Kräfte von bis zu 10 G, also der zehnfachen Erdanziehungskraft. Rücken-, Bein-, Rumpf- und Beckenmuskulatur müssen perfekt synergetisch trainiert sein, um dem standhalten zu können. Der Kopf drückt in diesem Moment mit 40 Kilo auf die Schultern, ohne ideal aufgewärmte Nacken- und Rumpfmuskulatur kaum haltbar. Das folgende Karussell, eine enge Kurve, bringt es immer noch auf bis zu 3 G Belastung.

Entgegen dem, was man als Laie erwarten würde, gibt es während dieser aufreibenden Passagen kaum Änderungen im Adrenalin- und Cortisolspiegel der Athleten. Der Grund: Der Pegel, mit dem sie ins Rennen starten, kann innerhalb der wenigen Sekunden nicht übertroffen werden. Beide Hormone haben hohe Halbwertszeiten und bleiben durchgehend auf einem ähnlichen Niveau.

Das Herz wortwörtlich noch höher schlagen lässt der anschließende Steilhang, der nur mit exaktem Timing zu bewältigen ist. Der rasche Rhythmuswechsel zwischen Be- und Entlastung macht sich in Herz-Kreislauf-System und Lunge bemerkbar, durch die aufeinander­folgenden Schwünge schwankt die Oxygenierung der Muskulatur. Soll heißen: Während des Schwungs wird der Muskel kurzzeitig sauerstoffärmer, in der Entlastungsphase steigt die Sättigung wieder. In der Bewegung arbeiten sie außerdem konzentrisch und exzentrisch, verkürzen und verlängern sich also. Hier muss der Körper zur Energiegewinnung schon auf anaerobe Prozesse zurückgreifen, die Kraft wird ohne Sauerstoff erzeugt. Bei solchen Prozessen bildet der Körper Laktat, ein Stoffwechselprodukt, anhand dessen sich der Sauerstoffmangel im Gewebe messen lässt. Die Anforderungen des Steilhangs sorgen für eine erste Laktatspitze im Körper, die aber erst verzögert im Blut messbar ist. Über die gesamte Abfahrt hinweg sind, je nach Athlet, 60 bis 65 % der Prozesse anaerob und damit laktatfördernd.

Start Abfahrt
1.665m

Mausefalle
bis 120 km/h
steilste Stelle mit 85 % 
Sprung bis 80 m

Wucht der Landung
bis zu 10 G

Druckverteilung
Kopf drückt mit 40 Kilo auf die Schultern

Karussellkurve

Steilhang

Wolfgang Schobersberger
Der Sportmediziner leitet das ISAG in Natters und als Universitätsprofessor das gleichnamige Institut an der UMIT TIROL – Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften und -technologie in Hall.

Komplett anders gestaltet sich die Situation bei Brückenschuss und Gschöss, einer langen Gleitpassage. Was am Bildschirm vergleichsweise entspannt aussieht, ist für die Athleten mit hoher Muskelspannung verbunden – hier gilt es, in tiefer Hocke Zeit zu sparen. Ebendiese Spannung und der gleichbleibende Winkel bedeuten eine isometrische Belastung – die Muskeln verändern ihre Länge nicht. Damit wird die Durchblutung der Beine ob der unveränderten Position vorübergehend noch stärker reduziert als im Steilhang. Es kommt zur lokalen Hypoxie, also einem Sauerstoffmangel, wegen der unveränderten Position noch stärker als im Steilhang. Wie der jeweilige Athlet sich in den Gleitpassagen optimal verhält, wird in Gleittests im Labor erforscht: Tiefe der Hocke, Spurweite, Vor- und Rücklage werden genau austariert. 

Über die alte Schneise geht es weiter zum Seidlalmsprung, der die Mitte der Rennstrecke markiert. Die Athleten können nicht sehen, welches Gelände dahinterliegt und müssen ihn gewissermaßen blind absolvieren. Die lang gezogenen Gleitkurven danach werden mit 80 bis 100 km/h gefahren, nach einer Minute bei derart hoher muskulärer und kognitiver Leistung lässt die Leistungsfähigkeit bereits nach. Trotzdem müssen die Athleten den Kräften in den Kurven widerstehen, das braucht wieder einen extrem hohen Muskeltonus. Andernfalls würden sie abdriften und in den Netzen landen. 

Schon geht es in Richtung Hausbergkante und Traverse. Die Einfahrt richtig zu erwischen, ist entscheidend – und für den ermüdenden Körper enorm anstrengend. Die hohen Geschwindigkeiten erfordern noch größere muskuläre Anspannung. Zusätzliche Schwierigkeit: In der Einfahrt und am Hausberg selbst sind die Athleten auf einer Schräge unterwegs, die Ski stehen also auf verschiedenen Ebenen auf der Piste – eine völlig unphysiologische Situation bei bis zu 110 km/h. Nicht nur darauf müssen sich die Fahrer einstellen, sondern auch auf die Schläge, die die Traverse kennzeichnen. Innerhalb von Zehntelsekunden müssen sie sich an das rasant wechselnde Terrain anpassen, während der unruhige Untergrund die Muskelspannung weiter antreibt. 

Brückenschuss

Gschöss
Gleitstück, bis 50 km/h

Alte Schneise
über 120 km/h

Seidlalmsprung
Hälfte der Abfahrtstrecke

Lärchenschuss
Gleitstück, bis 100 km/h

Hausbergkante
rund 100 km/h

Querfahrt

Im letzten Abschnitt, dem Zielsprung, werden mit bis zu 150 km/h die höchsten Geschwindigkeiten der gesamten Streif erreicht. Mit den letzten Toren vor Augen geht der Körper schon in Richtung Ausbelastung, die physiologischen und mentalen Reserven sind bald aufgebraucht. Unter Mobilisierung der letzten Kräfte wird die Muskelspannung gehalten, um die bestmögliche Zeit ins Ziel zu bringen. 

Glück und Unglück liegen auf der Streif nahe beieinander, besonders beim Blick auf das finale Ergebnis. Im Ziel haben die Läufer in Sachen Metabolismus und Laktat 90 % der Maximalwerte erreicht. Ihr Stoffwechsel ist stark aktiviert, die Kälte belastet die Lunge und ruft bei manchen Husten und Kälteasthma hervor. 

Die Regenerationszeiten der metabolischen Parameter unterscheiden sich voneinander, einige halten den Körper noch Stunden nach dem Event im Rennmodus. Die muskuläre Sauerstoffsättigung ist innerhalb kürzester Zeit wieder auf dem Ausgangsniveau. Der Laktatwert steigt im Ziel noch weiter, Cortisol mit seiner Halbwertszeit von 100 Minuten wird nur langsam abgebaut, Adrenalin hält sich ebenfalls länger im Körper. Die Herzfrequenz, die während eines Abfahrtsrennens auch bei 190 Schlägen pro Minute liegen kann, wird bei Läufern mit guter Erholungsfähigkeit in drei Minuten wieder um die 100 Schläge pro Minute betragen. Es liegt eine Sauerstoffschuld vor, da der Körper in seiner metabolischen Anstrengung so viel Sauerstoff verbraucht hat. Daher bleibt der Stoffwechsel noch über einen längeren Zeitraum aktiviert. Bis dieser wieder herunterfährt, der durch das Adrenalin erhöhte Umsatz sich legt, die Muskeln wieder auf den regulären Spannungszustand zurückgehen und man sich regeneriert, dauert es einige Stunden. Wie viel Kraft die Streif körperlich und mental tatsächlich kostet, lässt sich beim Blick in die Gesichter der Athleten nur erahnen. 

Zielsprung
bis zu 150 km/h

Ziel
805 m

Hormoncocktail
wird nur langsam abgebaut

Herzfrequenz
100 Schläge pro Minute

Schauen Sie sich das Rennen an?

Hans-Peter Platzer
Das Rennen ist ein Pflichttermin – entweder live oder vor dem TV.

Wolfgang Schobersberger
Ja, seit vielen Jahren, vor Ort oder über TV.

 

Was verbinden Sie mit der Streif? 

Hans-Peter Platzer
Spannung und Nervenkitzel pur. 

Wolfgang Schobersberger
Als Referatsleiter Medizin im ÖSV bin ich sozusagen „mittendrin“.

 

Wie finden Sie das Rennen? 

Hans-Peter Platzer
Spektakulärste Abfahrt im Weltcup.

Wolfgang Schobersberger
Extrem in jeder Hinsicht.

 

Foto: ISAG, Mathias Kniepeiss, WWP / Hans Bezard / Star-Agency, WWP