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Die zweite Haut

Im Skiweltcup trägt man schon seit über 50 Jahren Slim Fit: Ein Besuch beim Schweizer Rennanzug-Schneider Wams in Buchs.

Walter Graf staunte nicht schlecht, als im Jahr 1994 eines Tages Marc Girardelli in seiner Tür auftauchte und nach neuen Rennanzügen verlangte. Gleich 30 Stück der windschlüpfrigen Einteiler wollte der legendäre Allrounder und fünffache Gewinner des Gesamtweltcups geschneidert haben: zehn für die Abfahrt, jeweils ebenso viele für Slalom und Riesenslalom. Dabei hatte man beim Textilunternehmen Wams, im St. Gallener Buchs, bis dahin noch keinen einzigen Skirennanzug angefertigt. Aber – und darüber wusste Girardelli offenbar Bescheid – Wams hatte eine der ehemaligen Schneiderinnen von Hans Hess, dem genialen Erfinder der hautengen Anzüge und steten Innovationstreiber, übernommen, als dieser 1992 in Ruhestand ging und damit auch seine Produktion einstellte. Graf, Leiter der Sparte Sportbekleidung bei Wams, und Firmengründer Walter Amsler überlegten damals nicht lange – sie stiegen Hals über Kopf in die Produktion der Skirennbekleidung ein.

Fast Food: Das legendäre Schweizer-Käse-Dress, 1997 mit Bruno Kernen auf der Streif unterwegs

Hauteng an die Stangen: Joshua Sturm im Einteiler von Ski Austria

Marc Girardelli, erster Ski-Alpin-Kunde bei Wams, 1995 in Kitzbühel

„Manche wollen, dass der Anzug extrem eng sitzt, da passt dann nicht einmal mehr die Skiunterwäsche drunter.“

Walter Graf, Leiter der Sparte Sportbekleidung bei Wams

Der aktuelle Rennanzug von Swiss-Ski mit Namen Levada, rätoromanisch für Sonnenaufgang, gefertigt bei Wams in Buchs

Schneiderlogik

Der für Luxemburg startende Girardelli war ihr erster zufriedener Kunde. Es folgten Nationalteams wie jenes der Schweiz, für das die Wams AG die Anzüge im Auf­­trag ihres japanischen Ausstatters, Descente, bis heute anfertigt. Die Teams der USA, Kanadas und Österreichs gehörten zwischenzeitlich zur Klientel, auch für Skisprung- und Langlaufteams, Bob- und Schlittenverbände werden Anzüge gefertigt. Zu Spitzenzeiten wurden in Buchs jährlich 3.500 Rennanzüge bedruckt, genäht – und klarerweise auf Herz und Nieren getestet. Denn der Teufel schläft nicht, man stelle sich vor: Am Start der Streif, Sekunden bevor der Athlet über die Mausefalle fegen soll, reißt beim letzten Stretch eine Naht am Anzug. Da wäre Feuer am Dach – im Kitzbüheler Starthaus wie in Buchs gleichermaßen. Denn, nur so viel: Der 85-jährige Karl Frehsner, als Skitrainer nicht eben grundlos als „eiserner Karl“ bekannt, zeichnet seit mehr als zwei Dekaden für die Entwicklung der Rennanzüge des Teams der Eidgenossen verantwortlich. Folgerichtig müssen die verbauten Komponenten, alle Nähte, die Fadenspannung an den Nähmaschinen, die von der FIS vorgeschriebene Mindestluftdurchlässigkeit und sämtliche anderen Faktoren punktgenau stimmen. Auch die Passform muss selbstredend perfekt sein – und da steht die gemeine Schneiderlogik manchmal Kopf: So ist beim Downhill der ideale, faltenfreie Sitz in erster Linie in der Hocke gefragt, in der – no na – die höchsten Geschwindigkeiten erzielt werden.

„Das Einzige, das bei allen im Team gleich ist, ist der Rennanzug.“

Walter Graf

Passgenau

Jene hochtechnischen Stoffe, die bei Wams weiterverarbeitet werden, kommen derzeit noch aus der Schweiz, von Schoeller Textiles. Deren innovative, aerodynamische Bauarten sind manchmal der Oberfläche eines Golfballs nachempfunden, anderswo mit sanft gewölbten Längskanälen durchsetzt. Diese Strukturen, die Schnitte und die rückseitigen Nahtverläufe werden mit den Teams in den Windkanälen von Ruag in Luzern oder bei Audi in Ingolstadt getestet, um maximale Geschwindigkeiten bei minimalem Luftwiderstand zu erreichen.

Die Sportler im Schweizer A-Kader werden per 3D-Bodyscan vermessen, die Daten bei Wams direkt in die individuellen Schnittmuster übersetzt und voll automatisiert aus den Stoffen geschnitten. Auch auf individuelle Vorlieben wird dabei Rücksicht genommen. Walter Graf: „Manche Sportler wollen, dass der Anzug extrem eng sitzt, da passt dann nicht einmal mehr die Skiunterwäsche drunter. Andere haben es lieber etwas bequemer.“ Neuerungen, wie die seit dieser Saison verpflichtenden Airbags, sorgen für immer neue Herausforderungen. Man kämpfe wirklich gegen jede einzelne Falte, erzählt Graf weiter. Und dann kämen am Ende die mitnichten maßgeschneiderten Startnummern über die Anzüge. Das schmerze natürlich ein bisschen, sei aber immerhin für alle Starter gleich.

Der Rennanzug

Die Idee zum hautengen Einteiler kam dem Schweizer Hans Hess (1932 bis 2022), als er 1968 gemeinsam mit seinem Geschäftspartner, Tauchpionier Hannes Keller, in Wengen bei der Abfahrt vom Lauberhorn zuschaute. Der gelernte Mechaniker war regelrecht geschockt vom Lärm der „flatternden Klamotten“ der vorbeirauschenden Athleten. Es schien ihm sonnenklar, dass hier ein paar Hundertstel verloren gingen. Hess und Keller, die gemeinsam schon einen tiefentauglichen, flexiblen Tauchanzug realisiert hatten, beschlossen daraufhin, einen aerodynamischen, hautengen Rennanzug zu entwickeln. Bei den Skiweltmeisterschaften 1970 in Val Gardena kam Hess’ Erfindung erstmals bei einem Wettkampf zum Einsatz. 1972 gewannen Marie-Theres Nadig und Bernhard Russi in den Anzügen des Schweizer Erfinders überraschend Gold bei den Olympischen Winterspielen in Sapporo.

Bedruckt werden die schnittigen, oft knallbunten Overalls im Thermotransfer-Verfahren, die Farbübertragung erfolgt bei etwa 200 Grad von speziellem Papier auf die Stoffe. Derzeit werden bei Wams rund 2.000 Anzüge jährlich produziert, je Disziplin verbrauchen A-Kader-Starter fünf bis zehn Anzüge pro Winter. In den meisten Fällen werden die gebrauchten Overalls später aus Kostengründen und im Sinne der Nachhaltigkeit an den Nachwuchs vererbt. Für Normalsterbliche kostet der aktuelle Schweizer Rennanzug mit dem klingenden Namen Levada (rätoromanisch für Sonnenaufgang) zwischen 500 und 700 Euro – in Standardgrößen, keine Maßanfertigung, versteht sich.

Exponiert

Als Rennanzug-Schneider sei man zwar meist im Hintergrund – in Sachen Kritik im Ernstfall jedoch sehr exponiert, meint Walter Graf. „Das Einzige, das bei allen Startern im jeweiligen Alpinteam gleich ist, ist der Rennanzug.“ Die Ski, die Bindungen und Skischuhe sind bei den Athleten unterschiedlicher Herkunft. Wenn die Leistung insgesamt, als Team, grob daneben liegt, schauen alle plötzlich auf die Rennanzüge. Umso wichtiger also, dass bei den Anzügen alles, bis ins letzte Detail, perfekt sitzt.

Wams AG

Im schweizerischen Buchs, Kanton St. Gallen, fertigt die Firma Wams neben verschiedenen Textilien vor allem Sportbekleidung an. Raddressen zählen dazu, ebenso die Rennanzüge für Skisprung, Langlauf, Bob, Rodeln, Skeleton und eben Ski Alpin. Wams beschäftigt 20 Mitarbeitende, rund 2.000 Anzüge werden derzeit jährlich produziert. Ständig werden diese weiter individualisiert und optimiert, an Innovationen gearbeitet.

Fotos: Michael Rathmayr (8), GEPA pictures/Franz Pammer (2), Getty Images/Ullstein, Franz Oss