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KitzRace

Die Physik des Gleitens

Dass man auf Schnee und Eis rutscht, sagt uns der Hausverstand. Doch ganz so einfach ist es nicht. Welche physikalischen Phänomene das Skifahren erst möglich machen und wie Profis die nötigen Hundertstelsekunden herausholen, um der Konkurrenz davonzufahren, verrät Chemiker Thomas Lörting.

Am Hahnenkamm stürzen sich die Skiprofis mit bis zu 140 Stundenkilometern der Zielgeraden entgegen. Um solche halsbrecherischen Geschwindigkeiten zu erreichen, braucht es nicht nur die Kombination von viel Mut, einer gewaltigen Portion Können und absoluter Hightech-Ausrüstung, sondern vor allem eines: Physik. Warum es überhaupt möglich ist, auf Schnee und Eis zu gleiten – und wie sich dieser Effekt bis zum absoluten Maximum optimieren lässt –, damit beschäftigt sich Thomas Lörting vom Institut für Physikalische Chemie an der Universität Innsbruck.

Körperkraft und Gravitation
„Gleiten ist immer eine Frage der Reibung“, erklärt der Chemiker. „Die muss anfänglich überwunden werden, damit sich der Ski in Bewegung setzt – und dann muss sie so gering wie möglich sein, um Geschwindigkeit aufrechtzuerhalten oder im besten Fall mithilfe der Schwerkraft zu steigern.“ Beim ersten Schritt helfen den Sportlern die Stöcke: Mit einem kräftigen Schub stoßen sie sich aus der Startbox ab und überwinden die sogenannte Haftreibung und damit den größten Widerstand. Haben die Skier einmal Pistenkontakt, sind sie auf die Gleitfähigkeit des Mediums angewiesen und werden nur noch von der Gleitreibung und dem Luftwiderstand gebremst.

Dünner Film
„Allerdings sind Schnee und Eis nicht immer rutschig“, sagt der Experte. „Ist der Schnee sehr kalt, rutscht er nicht, sondern bremst – als würde man einen Grashügel hinunterfahren. Man spricht von ‚slip and stick‘.“ Das Gleiten funktioniert dagegen nur, weil die Temperaturen im Winter verhältnis­mäßig nah am Schmelzpunkt von Eis liegen. Denn auch wenn Wasser erst bei 0 Grad Celsius wirklich schmilzt, beginnt der Schmelzvorgang eigentlich schon früher. Deswegen bildet sich an der Oberfläche des Schnees auch bei normalen Wintertemperaturen eine dünne, weniger als ein Mikrometer dicke Wasserschicht. „Und die ist es, auf der Skier gleiten können.“

Eine Frage der Temperatur
Wie dick diese Schicht ist, hängt vor allem davon ab, wie nah die Temperatur am Schmelzpunkt liegt. Sinkt sie unter –30 Grad, verschwindet der Flüssigkeitsfilm völlig. „Dann fühlt es sich in etwa so an, als würde man versuchen, auf Sand Ski zu fahren“, beschreibt Lörting. Im Umkehrschluss entsteht immer mehr Wasser, je näher man dem Schmelzpunkt kommt. Deswegen ist es für Wintersportprofis extrem wichtig, die Wetterbedingungen richtig einzuschätzen und die Ausrüstung so abzustimmen, dass die geringstmögliche Reibungskraft wirkt: „Wenn sich zu viel Wasser auf der Oberfläche bildet, kommt es zum gleichen Effekt wie beim Aquaplaning“, sagt er. Dann sammelt sich Wasser unter dem Ski und bremst. Geschieht das, müssen die Wintersportler dafür sorgen, dass die Flüssigkeit unter dem Ski weggeleitet wird. „Ist die Schicht sehr dünn, muss das Wasser stattdessen dort gehalten werden.“

Wachse für alles
Erreicht wird das vor allem durch den Einsatz verschiedener Wachse. Dabei stoßen hydrophobe Wachse Wasser ab. Zusätzlich hilft die Profilierung des Belags. Richtig kombiniert leiten sie Wasser von der Gleitfläche des Skis weg und eignen sich so für wärmere Bedingungen. Hydrophile Wachse ziehen dagegen Wasser an und halten es unter den Skiern, was ideal für kältere Temperaturen ist. Ein weiterer Faktor ist die Morphologie der Schneekristalle. Das hängt zum einen davon ab, ob der Schnee in einer Schneekanone oder natürlich entstanden ist, aber auch von verschiedensten weiteren Aspekten, wie der Luftfeuchtigkeit oder dem atmosphärischen Druck. „Deswegen ist auch der Schnee in Nordamerika anders als der in Europa“, sagt der Wissenschaftler. „Ist die Oberflächenstruktur eine andere, bildet sich auch der Film anders aus.“

Heiße Kanten
Hat ein Athlet einmal Fahrt aufgenommen, entsteht zudem Reibungswärme – bei den hohen Geschwindigkeiten im Profisport sogar in so beachtlichen Mengen, dass die Kanten der Skier regelrecht verbrennen können. Deswegen müssen die Profis auch genau wissen, in welchen Abschnitten der Piste Kanteneinsatz hilfreich ist und wo er bremst. „Je größer die Auflagefläche ist, desto weniger Wärme entsteht“, meint Lörting. „Dementsprechend gibt es Teilstücke, in denen auf den Einsatz von Kanten so weit wie möglich verzichtet werden muss, und andere, in denen man mit mehr Wärme für mehr Flüssigkeit und damit für einen optimalen Gleitfilm sorgen und Geschwindigkeit aufbauen kann.“

Spiel mit dem Schwerpunkt
So gelingt es Profis durch den richtigen Einsatz von Kanten und Gleitflächen, den Film in der richtigen Dicke aufrechtzuerhalten, Schussstücke optimal zu nutzen und auch in Kurven zu beschleunigen. „Der Rest ist vor allem eine Frage der Schwerpunktverlagerung und wie es gelingt, die Fliehkräfte zu nutzen und die Angriffsfläche für die Luft so klein wie möglich zu halten“, erklärt Lörting. „Wer die richtige Spur und Körperhaltung findet und den Anpressdruck optimiert, wird die besten Resultate erzielen.“

Haftungsverlust

Die Reibung so niedrig zu halten wie irgendwie möglich, ist der Schlüssel zu hohen Geschwindigkeiten. Am Weg zum Sieg ist das aber nicht alles. Wie fragil die Balance zwischen rasanter Abfahrt und Kontrollverlust sein kann, hat Aleksander Kilde Anfang 2023 auf der Streif unter Beweis gestellt: Der Norweger, der mit einer gebrochenen Hand an den Start ging, sprang zu direkt in den Zielschuss ein und wurde in Richtung der Bande katapultiert. Nur Zentimeter vor dem Fangnetz gelang es ihm, mit dem rechten Ski Haftung zu finden und sich trotz des Beinahe-Debakels die Bestzeit zu sichern.

Thomas Lörting lehrt und forscht am Institut für Physikalische Chemie an der Universität Innsbruck. Dort befasst er sich unter anderem mit der Chemie und der Physik von gefrorenem Wasser. Dabei arbeitet er auch eng mit dem Institut für Sportwissenschaften zusammen, das ein sogenanntes Tribometer betreibt – eine Versuchsanlage, die den Reibungswiderstand von Schnee und Eis messbar macht.

Halbwissen

Wer sich im Internet auf die Suche nach der Antwort begibt, warum Skier rutschen, findet verschiedene Erklärungen – und bei Weitem nicht alle davon sind korrekt. „Eine häufige Fehlannahme ist, dass es mit dem Gewicht, das auf den Skiern lastet, zu tun hat“, sagt Lörting. Im Prinzip ist das auch korrekt. Denn der Schmelzpunkt von Eis sinkt unter Druck. Damit trägt das Körpergewicht der Wintersportler dazu bei, den gleitenden Wasserfilm zu erzeugen – allerdings nur theoretisch.

Praktisch sei dieser Effekt aber zu vernachlässigen: „Das sieht man schon daran, dass auch ein Kleinkind auf einer Eisplatte ausrutscht“, meint der Chemiker. Ebenso zeigt sich mathematisch schnell, dass es nahezu nicht auf das Gewicht ankommt. „Gehen wir von einer 75 Kilogramm schweren Person aus, die auf einer 20 Zentimeter langen und 3 Millimeter breiten Schlittschuhkufe steht“, rechnet er vor. „Das würde den Druck auf das Eis von 1 Bar – also dem normalen Luftdruck auf Seehöhe – auf rund 12 Bar steigern.“ Doch um den Schmelzpunkt von Eis um auch nur 1 Grad zu senken, bräuchte es zehnmal so viel Druck. Realistisch betrachtet mache das Gewicht selbst bei einer so kleinen Kontaktfläche keinen nennenswerten Unterschied. „Und ein Ski hat eine deutlich größere Auflagefläche. Dort ist das Gewicht noch einmal besser verteilt und der Druck auf den Schnee darunter damit deutlich geringer.“

Foto: shutterstock.com/Alex Ruban, WWP/David Johansson, GEPA pictures/Matic Klansek, UIBK/
Christian Flatz